Aus Kapitel 2 »Misstrauen«

Ich nahm das Buch, das ich für Bianca gekauft hatte, zur Hand. Einen Thriller vom dänischen Schriftsteller Jussi Adler-Olsen, dessen Bücher schon lange zu meinen Liebsten gehörten. Ich verpackte es in hellblaues Geschenkpapier, auf dem viele bunte Geburtstagstorten abgebildet waren. Zwar etwas kindisch, aber den Kontrast zum blutrünstigen Thriller darin fand ich lustig. Dann schnappte ich mir noch die Orchidee, die ich zusätzlich besorgt hatte, und machte mich auf den Weg zu Biancas Geburtstagsfeier. Knapp 25 Minuten später klingelte ich an der Eingangstür, die prompt von einem aufgeregten Sebastian geöffnet wurde. Sofort riss er mich in seine Arme.
»Nora, ey, wir haben uns schon so lange nicht mehr gesehen!«
»Höchstens zwei Wochen«, gab ich etwas verlegen zurück.
»Viel zu lange, sag ich doch!« Ich liebte Sebastian. Er war Jans Bruder und mein bester Freund. Und irgendwie vielleicht sogar so etwas wie mein Bruder. Bruder im Herzen oder so. Und er mochte mich mindestens so sehr, wie ich ihn. Er vertraute mir, und wenn es ihm schlecht ging, meldete er sich immer zuerst bei mir.
So war ich auch die Erste, der er beichtete, homosexuell zu sein. Er hatte wirklich mit sich gerungen und schreckliche Angst vor meiner Reaktion gehabt. Das hatte mich schon fast wütend gemacht. Als ob ich ihm jemals nicht beigestanden hätte. Mit mir an seiner Seite hatte er es dann auch Jan erzählt. Dieser war anfangs etwas überrascht hatte den sichtlich eingeschüchterten Sebastian dann aber aufmunternd in die Arme genommen. Nichts würde seine Meinung über ihn ändern, hatte er ihm zugesichert. Obwohl Sebastian mit unserer Reaktion zufrieden sein konnte, hatte er sich bis heute noch nicht überwinden können, sich vor seiner Mutter zu outen. Ich war mir sicher, dass Bianca es gut aufnehmen würde und wahrscheinlich ahnte sie es sowieso schon. Eine Mutter hatte da doch so etwas wie einen sechsten Sinn. Aber vielleicht brauchte er auch einfach nur noch ein wenig mehr Zeit. Es war ja seine Sache.
Sebastian grinste wie ein Honigkuchenpferd, nahm mich an der Hand und zog mich ins Wohnzimmer hinein. Dort saßen bereits zwei Freundinnen von Bianca, die ich schon zuvor irgendwann gesehen hatte. Bianca selbst saß zwischen ihnen und vor einem großen Kuchen, auf dem fünf Kerzen brannten. Als sie mich erblickte, stand sie auf, lächelte und lief mir entgegen.
»Alles Gute zum Geburtstag Bianca.« Ich schlang meine Arme um sie und sie erwiderte meine Umarmung. Genießerisch zog ich den Duft ihres Parfüms ein.
»Danke Schätzchen.« Ich löste mich von ihr und überreichte ihr die Orchidee und das kleine Päckchen.
»Von Jan und mir. Wo ist er eigentlich?« Ich schaute mich im Raum um, sah ihn aber nicht.
»Der müsste auch gleich kommen. Überstunden, du kennst das ja.« Ich rollte mit den Augen. Typisch. In dem Moment hörte ich den Schlüssel in der Tür und ein abgehetzter Jan stürmte in die Wohnung.
»Sorry, da bin ich.« Er lief direkt zu Bianca und umarmte sie. »Alles, alles Liebe und Gute!«
»Ich habe ihr unser Geschenk gerade gegeben«, sagte ich und gab ihm einen Begrüßungskuss.
»Na, dann kann die Party ja beginnen!«
Während Jan mit Sebastian den Tisch deckte und das von Bianca gekochte Abendessen herrichtete, packte das Geburtstagskind Geschenke aus.
»Danke für das Buch. Ein Thriller, uuuh!« Sie hob entsetzt die Hände und zwinkerte mir dann zu. »Auf eure Buchtipps kann ich mich immer verlassen. Der Roman, den ihr mir zu Weihnachten geschenkt habt, war mehr als genial. Ich habe ihn allen meinen Freundinnen weiterempfohlen. Vielen Dank.« Sie umarmte mich noch einmal und warf Jan einen Kuss zu. Dieser hatte aber gerade einen großen Topf voll Nudeln in der Hand und rief ihr daher nur ein kurzes »Gern geschehen!« zu.
Ein wohliges Schmatzen und Klappern von Besteck erfüllte den Raum. Wir unterhielten uns und die Stimmung war sehr ausgelassen und familiär. Ich genoss es, hier zu sein. Das hier waren Erfahrungen, die ich zum ersten Mal in meinem Leben machte. Gemeinsame Geburtstagsfeiern waren mir, bevor ich Jan kennenlernte, völlig fremd gewesen. Die verschiedenen Stationen in Pflegefamilien sah ich nicht als Familie an. Mehr als kurze Aufenthalte in wechselnden Herbergen. Naja, das Glück war eben nie ganz auf meiner Seite gewesen. Bis jetzt.
Als meine Mutter starb, war ich gerade mal acht Jahre alt. Aber schon davor war es alles andere als einfach bei uns zu Hause. Durch ihre Drogensucht war ich immer schon herumgereicht worden. Mal war ich bei Freunden der Familie untergebracht, mal bei Nachbarn. Auch an einen kurzen Aufenthalt im Heim konnte ich mich dunkel erinnern.
Nach ihrem Tod war ich in vier verschiedenen Pflegefamilien, bevor mir endlich erlaubt wurde, alleine zu leben. Ich hatte das ständige Hin und Her einfach satt. Zum Glück war mein Amtsvormund damit einverstanden gewesen. Er hielt mich für zuverlässig und vernünftig. Womit er natürlich auch Recht hatte. Einerseits war ich froh, endlich alleine zu leben. Mein Zimmer nicht mehr teilen zu müssen und mein eigenes Reich für mich zu haben. Andererseits genoss ich es auch, hier bei Jans Familie sein zu dürfen. Das machte mich glücklich.
Plötzlich hörte ich ein Vibrieren und fasste automatisch an meine Hosentasche. Das war wie bei diesem pawlowschen Hund. In Sachen Handynutzung waren wir doch alle schon konditioniert ohne Ende. Allerdings war es nicht mein Handy, das brummende Laute von sich gab. Jan erhob sich mit vollem Mund von seinem Stuhl und murmelte: »Bin gleich wieder da …«
Ich hörte noch ein »Was ist Fernanda? Wir sind gerade beim Essen«, dann schloss er die Tür hinter sich und es wurde ruhig.
Wir schauten ihm hinterher und widmeten uns dann wieder unseren Tellern.
»Das stört dich nicht?« Bianca schob sich eine Nudel in den Mund und schaute mich mit hochgezogenen Augenbrauen an.
»Dass er immerzu arbeitet? Naja, man gewöhnt sich daran«, gab ich etwas genervt zurück und zuckte mit den Achseln.
»Ich meinte eher, dass er in einen anderen Raum geht, um mit einer Frau zu telefonieren …«
Ich hielt kurz in meiner Bewegung inne. Klar fand ich das nicht toll, aber allzu sehr hatte ich mir darüber noch keine Gedanken gemacht. War das ein Fehler?
»Eigentlich nicht. Ist ja eh nur geschäftlich.« Das hoffte ich zumindest. Bei ihm war ja, seit er in der Agentur arbeitete, immer alles geschäftlich.
»So hat es bei seinem Vater auch angefangen.«
Was war denn das für ein doofer Kommentar? Da blieb mir doch fast das Essen im Halse stecken. Ich wusste, dass ihr Mann sie für eine Jüngere verlassen hatte. Aber sie konnte das doch nicht mit meinem Jan vergleichen. Jan hatte das ganze Drama doch hautnah miterlebt. Fremdgehen war seitdem für ihn das absolute Tabu. Ein rotes Tuch. Ein No-Go. Er konnte nicht mal Filme ertragen, in denen fremdgegangen wurde. Nicht selten war das der Moment, in dem er die Fernbedienung ergriff, um kopfschüttelnd und wutschnaubend umzuschalten. Beim Film Eiskalte Engel hatte er zwischendurch fast einen Tobsuchtsanfall bekommen. Sex and the City mochte er schon gar nicht mehr mit mir schauen. Er ärgerte sich einfach jedes Mal viel zu sehr, wenn Carrie und ihre Freundinnen wieder einmal betrogen wurden oder selbst fremdgingen. Nein. Jan war nicht so wie sein Vater. Nie und nimmer.
Ich schüttelte den Kopf und lächelte Bianca an. Sie meinte es nicht so. Vielmehr spürte ich, dass sie immer noch verletzt war und die Trennung bis heute nicht ganz verkraftet hatte. Aber wer konnte ihr das übel nehmen? Die große Liebe zu verlieren, ist immer tragisch.
Wie schlimm, konnte ich nur erahnen.
»Ich vertraue Jan«, gab ich selbstsicher zurück.
Sie nickte.

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